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Anne Pauline Dufour-Feronce mit ihrem Sohn Jean Marc Albert



Anne Pauline Dufour-Feronce mit ihrem Sohn Jean Marc Albert


Inventar Nr.: GK 956
Bezeichnung: Anne Pauline Dufour-Feronce mit ihrem Sohn Jean Marc Albert
Künstler: Johann Friedrich August Tischbein (1750 - 1812), Maler/in
Dargestellt: Anne Pauline Dufour-Feronce (1774 - 1839)
Albert Johann Markus Dufour-Feronce (1799 - 1861)
Datierung: 1802
Geogr. Bezug: Leipzig
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 125 x 106 cm (an allen vier Seiten stark beschnitten, ursprünglich 193 x 120 cm) (Bildmaß)
Provenienz:

erworben 1958 von Marc Dufour-Feronce, Berlin-Zehlendorf

1924 Albert Dufour-Feronce, London


Katalogtext:
Mit seinem Umzug nach Leipzig und der Ernennung zum Direktor der Kunstakademie im Jahr 1800 erhielt Tischbein zahlreiche Porträtaufträge von wohlhabenden Bürgern der Messestadt. Seine Gemälde, ebenso geprägt von Innigkeit wie von vornehmer Zurückhaltung, sprachen eine Klientel an, die zunehmend ihr Privatleben inszenierte. Sie spiegeln aufgeklärte Ideale wider, wie sie die bürgerliche Öffentlichkeit Ende des 18. Jahrhunderts formulierte: Vorstellungen von der modernen Kleinfamilie, von der Frau als Gattin und Mutter und von einer ›natürlichen Erziehung‹ des Kindes im Sinne Rousseaus.
Das Porträt der Anne Pauline Dufour-Feronce war ursprünglich ganzfigurig. Es wurde nach 1809 und vor 1912 an allen vier Seiten beschnitten. Im Künstlerlexikon von Johann Georg Meusel wird es noch unter »Ganze Figuren in Lebensgröße« angeführt. Im Ausstellungskatalog »Die Leipziger Bildnismalerei von 1700 bis 1850« aus dem Jahr 1912 findet sich der Hinweis »Kniestück (ursprünglich ganze Figur)«. Die Originalgröße lässt sich erschließen durch das noch in Originalgröße erhaltene Pendantbildnis des Ehemanns (1875/1366). Die beiden Porträts ergeben durch die Körperhaltung der Eltern, die Mutter nach links, der Vater nach rechts gewandt, ein Bilderpaar, das die Zusammengehörigkeit der Familie betont. Die Geschlechterrollen sind bei den Eltern, nicht aber bei den Kindern, eindeutig verteilt: Während der Großkaufmann mit seiner Tochter draußen, in einer Landschaft, weilt, charakterisiert der Innenraum seine Gattin als Hüterin des Hauses. Im Zuge der bürgerlichen Flucht aus der großen Gesellschaft in häusliche Zirkel war es die Frau, die fortan den Rahmen der Geselligkeit stiftete und für das häusliche Glück sorgte. Sie war für die Pflege und Erziehung der Kinder verantwortlich und verrichtete alle mit der Hauswirtschaft anfallenden Aufgaben. Im Gemälde weisen der Nähtisch und die Stickarbeit auf dem Wandschirm auf die nützlichen weiblichen Fertigkeiten hin.
Anne Pauline Dufour-Feronce (1774-1839), geb. Feronce, war seit 1792 mit dem Großkaufmann Jacques Ferdinand Dufour verheiratet, der mit französischen und italienischen Seidenwaren handelte und wie seine Frau aus einer in Leipzig ansässigen Hugenottenfamilie stammte. Mit den gedrehten Stirnlöckchen »à la grecque« und dem langen, hochtaillierten Kleid aus weißem Musselin ist sie in der aktuellen Mode dargestellt. Tischbein verstand es besonders gut, den durchscheinenden Stoff des feinen Musselins und dessen fließend-weichen Faltenwurf wiederzugeben.
Anne Pauline hält ihren Sohn Jean Marc Albert (1798-1861) auf dem Schoß, der den Kopf an ihren Hals lehnt. Mutter und Kind wenden beide den Blick dem Betrachter zu. Das harmonische Kolorit, die schwachen Helldunkelkontraste der dünn aufgetragenen weißgelben Farbtöne, von denen sich lediglich der moosgrüne Anzug des Jungen absetzt, und die Dreieckskomposition betonen das innige Mutter-Kind-Verhältnis. Mit der Stilisierung mütterlicher Fürsorge vertrat Tischbein in Deutschland als einer der ersten eine neue Bildnisauffassung, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich durchsetzte und für die bürgerlichen Werte der Epoche ›Empfindsamkeit‹ und ›Natürlichkeit‹ eine Bildform bot. Tischbein lernte diesen Porträttypus während seiner Auslandsaufenthalte in Paris, Rom und Neapel kennen, wo er sich mit der Bildnismalerei von Elisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842), Marguerite Gérard (1789-1842) und Charles Romney (1734-1802) vertraut gemacht hatte. Das Motiv der Umarmung von Mutter und Kind, das sich auch in anderen Porträts von Tischbein findet (vgl. 1875/1217), taucht etwa in Romneys Gemälde »Mrs. Stratford Canning und ihre Tochter« von 1784 auf und in einem Selbstbildnis Vigée-Lebruns mit ihrer Tochter, das sich im Louvre befindet (Inv. Nr. 3068). Besonders das Selbstporträt Vigée-Lebruns aus dem Jahr 1789 enthält in der Anordnung der Personen und in ihrer Gestik Parallelen zum Porträt von Anne Pauline Dufour-Feronce. Ähnlich wie die Kaufmannsfrau und ihr Sohn umarmen sich dort die Malerin und ihre Tochter, wenn auch weniger distanziert. Auch ihre Gesichter berühren sich, und sie richten den Blick auf ein imaginäres Gegenüber.
Im Unterschied zu den Bildnissen von Romney und Vigée-Lebrun, in denen die affektive Bindung von Mutter und Kind im Zentrum steht und der Hintergrund bloß angedeutet ist als Landschaft oder dunkler Grund, ist der Innenraum in Tischbeins Porträt detailliert beschrieben. Er gibt Aufschluss über die dargestellten Personen. Ursprünglich nahm das repräsentative Interieur einen größeren Teil des Gemäldes ein und hatte weit mehr Gewicht, was jetzt nur noch die angeschnittene Skulptur im Hintergrund andeutet.
Die Staatlichen Museen Kassel besitzen eine Ölskizze (1875/1219), auf der Tischbein den Mutter-Kind-Typus erprobt hat, den er im Porträt der Anne Pauline Dufour-Feronce umsetzte.
(S. Heraeus, 2003)


Literatur:
  • Leipziger gelehrtes Tagebuch. 1802, S. 143.
  • Meusel, Johann Georg: Teutsches Künstlerlexikon oder Verzeichnis der jetztlebenden Teutschen Künstler, Zweite überarb. Ausgabe. Lemgo 1808ff, S. 440 (Bd. 2, 1809).
  • Kurzwelly, Albrecht [Bearb.]: Die Leipziger Bildnismalerei von 1700 bis 1850. Leipzig 1912, S. 778.
  • Biehl, Walther: Die Leipziger Bildnismaler von 1700-1850. In: Zeitschrift für bildende Kunst (1912), S. 272-288, S. 283.
  • Stoll, Adolf: Der Maler Friedrich August Tischbein und seine Familie. Stuttgart 1923, S. 186.
  • Joh. Friedrich August Tischbein, 1750-1812. Gemälde und Zeichnungen aus deutschem Museums- und Privatbesitz. 1924, Kat.Nr. 8.
  • Teupser, Werner: Johann Friedrich August Tischbein (ausgestellt im Leipziger Kunstverein). In: Zeitschrift für bildende Kunst (1924), S. 14-23, S. 15.
  • Kroker, Ernst: Handelgeschichte der Stadt Leipzig. Bielefeld/Leipzig 1925, S. 155, 188.
  • Landsberger, F.: Die Kunst der Goethezeit. Leipzig 1931, S. 141.
  • Hessische Heimat 11. 1961, S. 24, 26, 45.
  • Vogel, Hans [Bearb.]: Gemälde der Kasseler Galerie. Kassel 1961, S. 88.
  • Oehler, Lisa: Neuerwerbungen in der Amtszeit von Hans Vogel (1945-1961), für die staatlichen Kunstsammlungen in Kassel. In: Kunst in Hessen und am Mittelrhein (1962), S, S. 61.
  • Herzog. Erich: Kurhessische Maler 1800-1850. Kassel 1967.
  • Angelika Kauffmann und ihre Zeitgenossen. Bregenz 1968, S. 134, Kat.Nr. 440.
  • Herzog, Erich: Die Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel. Geschichte der Galerie von Georg Gronau und Erich Herzog. Hanau 1969, S. 96, Kat.Nr. 99.
  • Becker, Wolfgang: Paris und die deutsche Malerei 1750-1840. München 1971, S. 35.
  • Rump, Gerhard Charles: George Romney (1734-1802). Zur Bildform der bürgerlichen Mitte in der englischen Neoklassik. Hildesheim/New York 1974, S. 73.
  • Börsch-Supan, Helmut: Die Deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées 1760- 1870. München 1988, S. 141, 156.
  • Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution. Nürnberg 1989, Kat.Nr. 394.
  • Kluxen, Andrea M.: Das Ende des Standesproträts. Die Bedeutung der englischen Malerei für das deutsche Porträt 1760-1848. München 1989, S. 168.
  • Franke, Martin: Johann Friedrich August Tischbein. Leben und Werk. Egelsbach u. a. 1993, S. 132 (Bd. 1), Kat.Nr. 94 (Bd. 2).
  • Maurer, Michael: Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815). Göttingen 1996, S. 301, 534-539.
  • Middell, Katharina: Hugenotten in Leipzig. Streifzüge durch Alltag und Kultur. Leipzig 1998, S. 122-130, 173, 194.
  • Heraeus, Stefanie [Bearb.]; Eissenhauer, Michael [Hrsg.]: Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel. Kassel [u.a.] 2003, S. 196-198, Kat.Nr. 171.
  • 3x Tischbein und die europäische Malerei um 1800. Kat. Staatliche Museen Kassel, Museum der bildenden Künste Leipzig. München 2005, S. 48, 192, Kat.Nr. 62.
  • Marc Fehlmann: Anton Graff. Gesichter einer Epoche. Berlin 2013, S. 97.
  • Lange, Justus: Tussen Sentiment en Humor. Johann Friedrich August Tischbein als Schilder van het Gevoel.


Letzte Aktualisierung: 28.10.2021



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