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Selbstbildnis in jüngeren Jahren



Selbstbildnis in jüngeren Jahren


Inventar Nr.: GK 878
Bezeichnung: Selbstbildnis in jüngeren Jahren
Künstler: Johann Heinrich d. Ä. Tischbein (1722 - 1789), Künstler
Dargestellt: Johann Heinrich d. Ä. Tischbein (1722 - 1789)
Datierung: um 1752/1755
Geogr. Bezug:
Material / Technik: Leinwand, doubliert
Maße: 97,5 x 79,3 cm (Bildmaß)
Provenienz:

erworben 1919 von A. S. Drey aus der Sammlung Georg Hirth, München


Katalogtext:
Tischbein d. Ä., der sich im Laufe seines Lebens in mehr als zwanzig Selbstbildnissen in Szene gesetzt hat, wendet sich mit versonnenem Blick dem Betrachter zu und stellt seine Profession zur Schau. Er stellt sich im Moment des Innehaltens dar, als ob er über einen zeichnerischen Einfall nachdenken würde. Er erscheint mit grau gepudertem Zopf und elegant gekleidet, in grünem Justaucorps und grauer Kniehose. Im Frühjahr 1753, während der Entstehungszeit des Selbstbildnisses, wurde er von Landgraf Wilhelm VIII. (1682-1760) zum Kasseler Hofmaler ernannt. Der gesellschaftliche Anspruch, der mit dem Status des Hofkünstlers verbunden war, äußert sich auch in der Wahl des repräsentativen Kniestücks.
Demonstrativ hält er in der rechten Hand anstelle eines Pinsels einen Doppelstifthalter aus Messing, an dessen Enden jeweils ein Kreidestängel eingeklemmt ist, und in der linken eine Kreidedose und ein rot-weiß kariertes Tuch. Die Geste der rechten, aktiv gestaltenden Hand, besonders hervorgehoben durch die weiße, duftig aufspringende Manschette, ist ebenso wie die große Zeichenmappe auf Tischbeins übereinander geschlagenen Beinen, die als Unterlage für eine soeben begonnene Zeichnung dient, ein Bekenntnis zur akademisch-klassizistischen Kunsttheorie. Ihr galt die Zeichnung, der »disegno«, als unmittelbarste Äußerung der künstlerischen Einbildungskraft. Auch das kaum begonnene Historienbild auf der Staffelei im Hintergrund, auf dem skizzenhaft der Oberkörper einer männlichen Figur mit erhobenem Arm vorgezeichnet ist, weist auf diese Vorstellung des »disegno« und dessen dienende Funktion für die Malerei hin. Auch wenn ein großer Teil von Tischbeins zeichnerischem Werk verlorenging, belegen die noch erhaltenen Kompositionsstudien zu seinen Historiengemälden und Porträts, welche zentrale Rolle das Zeichnen bei der Konzeption seiner Werke spielte. Tischbeins Freund Gustav Casparson (1729-1802), Professor der Geschichte am Kasseler Collegium Carolinum, formulierte dies in seiner 1790 gehaltenen Gedenkrede an den Maler: »Seine ganze Einbildungskraft wurde Feuer, sein Herz wurde warm, das werdende Gemälde strahlte aus seinen Augen, und alles floß schnell in seine Reissfeder, aus dieser der Entwurf auf das Papier. In dergleichen Entwürfen, denn einer allein genügte ihm nicht, zeigte sich der Reichthum, die Kraft, die Schönheit seines Genie's auffallend« (Casparson 1790, S. 160).
Das blaue Papier, auf dem Tischbein die Skizze begonnen hat und auf dem er häufig seine Handzeichnungen machte, lässt sich als Hinweis auf seine zeichnerische Ausbildung in Venedig verstehen, in der Werkstatt Piazzettas und an der »Accademia del disegno«, wo blau gefärbte Papiere seit der Renaissance verbreitet waren. Die malerische Auffassung des Porträts, das warme tonige Kolorit mit dem Komplementärkontrast von rotem Vorhang und grünem Rock und die effektvolle Verteilung des Helldunkel stehen noch unter venezianischem Einfluss. Auch der weiche Schmelz der Farben und die reiche, detaillierte Wiedergabe einzelner Bildmotive, etwa bei der Kleidung oder bei der Zeichenmappe, deren Schleifenbänder und knittriges Papier genau beschrieben sind, ist typisch für Tischbeins Porträtstil der 1750er Jahre.
Eine schwächere Fassung des Porträts befindet sich in Schloss Neuenstein im Hohenlohekreis. Dort wird auch ein Selbstbildnis von Tischbeins älterem Bruder Johann Valentin verwahrt, in dem dieser sich – wohl in Anlehnung an das vorliegende Gemälde – in ganz ähnlicher Pose dargestellt hat.
Tischbein hatte die Leinwand des Gemäldes zunächst für eine Figurenstudie im Querformat verwendet. Schemenhaft ist davon noch der Fuß einer hockenden Gestalt oberhalb der Zeichenmappe in Höhe der Staffelei zu erkennen.
(S. Heraeus, 2003)


Literatur:
  • Thieme, U. [Hrsg.]; Becker, F. [Hrsg.]; Vollmer, H. [Hrsg.]: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 1907-1950, S. 210 (Bd. 33, 1939).
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  • Vom Rokoko zur Romantik. Kassel 1946, S. 4, Kat.Nr. 2.
  • Hauptwerke der Kasseler Galerie. Kassel 1955.
  • Heidelbach, Paul: Kassel - Ein Jahrtausend hessischer Stadtkultur. Kassel 1957.
  • Vogel, Hans: Katalog der Staatlichen Gemäldegalerie zu Kassel. Kassel 1958, S. 154, Kat.Nr. 878.
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  • Kaiser, Konrad: Ein Gang durch Kassels Neue Galerie, Teil 1. Kassel 1976, S. 13.
  • Boucsein, Heinrich [Bearb.]: 800 Jahre Haina. Kloster - Hospital - Forst. Kassel 1988, Kat.Nr. 328.
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  • Sitt, Martina: "Geeignet, junge Künstler zu belehren..." Die Anfänge der Kassler Kunstakademie (1777-1830). Hamburg 2018.
  • Kuhn, Léa: Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Malerei um 1800. Paderborn 2020, S. 14.
  • Mävers, Sophie-Luise: Reformimpuls und Reglungswut. Die Kasseler Kunstakademie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Künstlerausbildung im nationalen und internationalen Vergleich. Darmstadt/Marburg 2020.
  • Tischbein. Meisterwerke des Hofmalers. Porträts und Landschaften von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722-1789). Ausstellungskatalog. Museum Schloss Fasanerie. Eichenzell 2022, S. 13.
  • Lange, Justus; Rotter, Malena: Tischbein im Kontext. Ausstattungsprogramme für die Landgrafen von Hessen-Kassel. Kassel 2023, S. 14, 24.


Letzte Aktualisierung: 19.03.2024



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