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Liturgisches Buch



Liturgisches Buch


Inventar Nr.: GK 1044
Bezeichnung: Liturgisches Buch
Künstler: unbekannt, Maler/in
Datierung: 1. H. 16. Jh
Geogr. Bezug: Süddeutschland
Material / Technik: Öl
Maße: 42,5 x 53,4 cm (Bildmaß)
54 x 64 x 5,5 cm mit Rahmen (Objektmaß)
Provenienz:

alter Besitz, Erwerbungszeitpunkt unbekannt


Katalogtext:
Ein geöffnetes Buch vor schwarzem Fond ist in Leseposition auf den Betrachter ausgerichtet. Der zweispaltige handschriftliche Text in gotischer Textura, die Neumen und farbigen Initialen kennzeichnen die Schrift als Messbuch, das in der Liturgie zum Einsatz kam. Am rechten Einband sind zwei Verschlussriemen befestigt, von denen der eine locker herabhängt, der andere in der Art eines Lesezeichens zwischen den Buchseiten klemmt. Einige der Seiten sind aufgeblättert wie durch einen momentanen Luftzug. Es entsteht mithin nicht nur der Eindruck, als sei das Buch gerade in Gebrauch, die bewegten Seiten führen auch das Moment der Zeit in die Darstellung ein, so als böte sich die Schrift eben jetzt den Augen des Betrachters dar. Diese Unmittelbarkeit wird gesteigert durch den malerischen Illusionismus und das lebensgroße Format des Buches, das vor dem neutralen Hintergrund umso präsenter hervortritt. Gleichzeitig scheint diese undefinierte Räumlichkeit den Realitätsgrad der Darstellung zu konterkarieren. Diese Ambivalenz betrifft auch die vermeintlich akkurate Wiedergabe der Buchseiten, die sich bei näherem Blick als Täuschung entpuppt: Der unleserliche Text weist das liturgische Buch als Fiktion aus, das also kein reales Missale wiedergibt, sondern lediglich dessen gestalterische Charakteristika zu einem Typus des Messbuchs kompiliert.
Jenseits seiner hier beschriebenen Merkmale als Trompe-lʼŒil bildet das liturgische Buch ein kunsthistorisches Kuriosum. Die Existenz von einem Dutzend weiterer, eine Datierung von 300 Jahren umspannender Exemplare, die das Bildmotiv beinahe unverändert tradieren, gibt weitere Rätsel auf. Maximalen Illusionismus bietet die Kronacher Fassung als sogenannter Chantourné („ausgesägt“), bei der die Konturen des Holzträgers und des Buchmotivs identisch sind.

Aus Andachtsbildern sind Bücher als zentrales christliches Motiv bekannt, ab dem 17. Jahrhundert entwickelt sich schließlich die Untergattung des Buchstilllebens, oftmals mit Vanitas-Charakter, in der Bücher diverse moralisierende oder auch künstlerische Bedeutungen annehmen können.
Bereits im 15. Jahrhundert gehören Bücher zum Inventar illusionistisch gemalter Nischen oder Schränke, die in Andachtsbildern, aber auch als selbstständiges Motiv auf deren Rückseiten, oder als Wandmalereien im Kirchenraum auftreten. Einen verwandten Effekt weisen die intarsierten Wanddekorationen italienischer Studioli auf, wie diejenigen des Herzogs Federico da Montefeltro im Palazzo Ducale in Urbino und in Gubbio aus den 1470er-Jahren. Halbgeöffnete Schränke geben dort den Blick frei auf Bücher und zahlreiche Attribute der Künste und Wissenschaften, als deren Schaufenster die Studioli dienten. Das Paradox des per se anti-illusionistischen Mediums der Intarsie, das mithilfe von Perspektive eine räumliche und gegenständliche Illusion erzeugt, bildet den besonderen Reiz dieser Dekorationen, die den künstlerischen Anspruch des Studiolo auch technisch demonstrieren. Buchintarsien sind ebenso an italienischen Chorpulten des frühen 16. Jahrhunderts belegt, wo sie den Platz der während der Messfeier verwendeten Schriften markieren. In dieser Bildtradition und in einem ähnlichen funktionsgebundenen Zusammenhang stehen wohl auch das Kasseler liturgische Buch und seine Varianten: Aufgrund ihrer geringen Gebrauchsspuren dienten sie eher als bewegliche „Platzhalter“.
(J. Carrasco, 2015)


Literatur:
  • Herzog, Erich: Die Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel. Geschichte der Galerie von Georg Gronau und Erich Herzog. Hanau 1969, S. 78.
  • Lagemeyer, Gerhard [Hrsg.]; Peters, Hans-Albert [Hrsg.]: Stilleben in Europa. Ausstellungen Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster 25.11.1979 - 24.2.1980. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 15.3.1980 - 15.6.1980. Münster/Baden-Baden 1979, S. 595 Anm. 19.
  • Schneckenburger-Broschek, Anja: Die altdeutsche Malerei. Kassel, Staatliche Kunstsammlungen Kassel 1982, S. 53, 69.
  • Schnackenburg, Bernhard: Gemäldegalerie Alte Meister Gesamtkatalog. Staatliche Museen Kassel. 2 Bde. Mainz 1996, S. 290.
  • Schneckenburger-Broschek, Anja: Altdeutsche Malerei. Die Tafelbilder und Altäre des 14. bis 16. Jahrhunderts in der Gemäldegalerie Alte Meister und im Hessischen Landesmuseum Kassel. Kassel, Staatliche Kunstsammlungen Kassel 1997, S. 269-282.
  • Carrasco, Julia [Redaktion,Lektorat]; Lange, Justus [Redaktion, Lektorat]: Bild und Botschaft. Cranach im Dienst von Hof und Reformation. Ausstellung Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Herzogliches Museum, 29.3-19.7.2015 / Museumslandschaft Hessen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Schloss Wilhelmshöhe 21.8.-29.11.2015. Heidelberg 2015, S. 94.
  • Schulz, Christoph Benjamin: Poetiken des Blätterns. Hildesheim 2015, S. 4.
  • Lange, Justus; Carrasco, Julia: Kunst und Illusion. Das Spiel mit dem Betrachter. Petersberg 2016, S. 80, Kat.Nr. 23.


Letzte Aktualisierung: 26.03.2024



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